Postdemokratie

Da zum Wahljahr 2011 schon fast alle Prognosen gemacht sind und wir wissen, dass alle Parteien außer der SVP verlieren werden und dass insbesondere die SP auch 2011 geprügelt werden kann, weil sie keine Mittepartei sein will, was sich der Politjournalismus offenbar sehnlichst wünscht – da lohnt es sich vielleicht, sich ein Konzept in Erinnerung zu rufen, von dem man (wie ich) vielleicht schon mal gehört hat, es aber zurück in den mentalen Theorieschrank gestellt haben könnte (wie ich).

Es handelt sich um Colin Crouchs Begriff der Postdemokratie (Bonn, 2008; im Original 2004; empfehlenswert ist die Lektüre dieses Interviews in der taz). Er bezeichnet damit

ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden […], in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. (S. 10)

Postdemokratie ist immer noch ein demokratischer Zustand, so Crouch – in dem aber die Demokratie nicht viel mehr als Schein ist. Während es so aussieht, als führten demokratische Prozesse zu Entscheidungen, sind für diese Entscheidungen eine schmale Elite von UnternehmerInnen und Lobbyisten verantwortlich.

Zu diesem Schein trägt die Organisation der Medien bei, die ebenfalls wenige Menschen kontrollieren.

Eine Postdemokratie sieht klassenlos aus, ist es aber nicht: »unter dem Deckmantel der Rhetorik der Marktwirtschaft und des freien Wettbewerbs« genießen UnternehmerInnen politische Privilegien. Zudem sind Reichtumsunterschiede für neue Formen von Klassen verantwortlich, welche aber nach dem Zerfall der Arbeiterklasse kaum mehr sichtbar gemacht werden können. (Ein schönes Beispiel dafür ist wohl der Steuerwettbewerb in der Schweiz, zusammen mit der Pauschalbesteuerung läuft er nur auf Privilegien für besonders reiche Menschen heraus, was aber mit Argumenten wie »Föderalismus« und in Abstimmungen als eine Eigenschaft einer funktionierenden Demokratie verkauft wird.)

Ein Zeit-Artikel bringt Crouchs Werk wie folgt auf den Punkt:

[A]lle große Parteien [haben] nur noch ein Programm, nämlich die »Anpassung« an den Sachzwang der Wirtschaft. Sie zersägen den Wohlfahrtsstaat, kürzen lebhaft Sozialleistungen, senken Unternehmenssteuern und gern auch die Löhne.

Crouch entwirft drei mögliche Auswege aus den Problemen einer Postdemokratie (er behauptet nicht, dass wir uns schon in diesem Zustand befänden, sondern dass sich Demokratien generell diesem Zustand annäherten):

  1. Wachsende Dominanz ökonomischer Eliten einschränken.
  2. Reformen der politischen Praxis.
  3. Handlungsmöglichkeiten für BürgerInnen.

Dabei (3.) warnt Crouch vor extremistischen Bewegungen von »WutbürgerInnen« – gerade darum geht es ihm nicht; sondern beispielsweise um die Möglichkeiten des Internets, wie dieser Webkompetenz-Post aufzeigt.

Martin Lindner präzisiert denn auch:

http://twitter.com/#!/martinlindner/status/22015551551315970

Um die Schweiz aufzugreifen (aus gesamteuropäischer Perspektive würde die Schweiz allerdings wohl als die am wenigsten post-demokratische Nation gelten), müsste man 1. – 3. ungefähr so konkretisieren:

  1. a) Klare Beibehaltung von progressiver Besteuerung und Einschränkung des Steuerwettbewerbs.
    b) Staatliche Parteienfinanzierung, Spenden von Privaten und Unternehmern verbieten.
    c) Klarere Trennung von Politik und Wirtschaft in Bezug auf Verwaltungsratsmandate etc.
  2. a) Verfassungsgerichtsbarkeit.
    b) Durch 1.b) herbeigeführte Reduktion der Mittel für Propaganda und Marketing der Parteien.
    c) …
  3. Wohl der schwierigste Punkt: Ich sehe vor allem auch im Internet und den Möglichkeiten, sich auf verschiedenen Plattformen (Vimentis, Politnetz etc.) zu informieren, ohne in diesem Diskurs durch wirtschaftliche Faktoren oder Parteienpolitik eingeschränkt zu werden, eine Möglichkeit.

Um weitere Ideen wird gebeten…

* * *

Und um den Teufel noch an die Wand gemalt zu bekommen:

Wir hätten es anders wollen müssen. Wenn Europa in einen neuen Faschismus marschiert, können sich die Bürger das selbst zugute halten. Sicher, es werden andere Schuldige gefunden werden, die üblichen Verdächtigen: Moslems, Zigeuner, Kommunisten. Die Feindbilder werden täglich von den Medien und aus den autoritären Regierungsbunkern genährt. Das ist jederzeit abrufbar.