Handeln die Wählerinnen und Wähler von rechtskonservativen Parteien gegen ihre Interessen?

Vor zwei Monaten habe ich über die Arbeiten von Chris Mooney geschrieben, der erklärt, dass Wählerinnen und Wähler der amerikanischen Republikaner häufig die Realität verkennen und belegte wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen, weil es ihnen Stabilität (z.B. in einer Glaubensgemeinschaft) wichtiger ist als die korrekte Darstellung von Tatsachen.

Jonathan Haidt forscht an der University of Virginia und an der New York University über »Moral Foundations Theory« – und analysiert die Differenz zwischen konservativen und liberalen Wählerinnen und Wählern in den USA von einem anderen Standpunkt aus, wie er in einem lesenswerten Artikel im Guardian und in seinem Buch, The Righteous Mind, darlegt.

Seine Theorie basiert auf der Annahme, Moral bestünde aus sechs Polpaaren:

  1. Fürsorge – Schaden
  2. Fairness – Betrügen
  3. Freiheit – Unterdrückung
  4. Loyalität – Betrug (in einem anderen Sinne als bei 2.)
  5. Autorität – Unterordnung
  6. »Heiligkeit« (Dinge als unantastbar betrachten, nicht nur im religiösen Sinne) – Erniedrigung

Auf yourmorals.org kann man den eigenen moralischen Kompass testen. Haidt tut das, indem er verschiedene Fragen stellt, bei denen es immer darum geht zu sagen, wie viel Geld man erhalten müsse, um eine bestimmte Handlung auszuführen:

Das führt zu einer Darstellung der eigenen Moral, die man wohl besser in einem Smartspider präsentieren würde:

Der grüne Balken sind »meine« Resultate, der blaue der von Liberalen (Linken) und der rechte der von Konservativen (Rechten).

Haidts Folgerungen sind nun folgende:

Konservative haben höhere moralische Standards in den Bereichen Autorität, Loyalität und »Heiligkeit«/Reinheit. Er spricht davon, dass sich Moral wohl ähnlich verhalten wie die Geschmacksempfindungen auf der Zunge – d.h. wir nehmen verschiedene Geschmacksrichtungen war, können sie unterscheiden und bevorzugen. Damit erklärt er nun das Wahlverhalten von Menschen, die Politikerinnen und Politiker wählen, die ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit Schaden zufügen:

Many commentators on the left have embraced some version of the duping hypothesis: the Republican party dupes people into voting against their economic interests by triggering outrage on cultural issues. „Vote for us and we’ll protect the American flag!“ say the Republicans. „We’ll make English the official language of the United States! And most importantly, we’ll prevent gay people from threatening your marriage when they … marry! Along the way we’ll cut taxes on the rich, cut benefits for the poor, and allow industries to dump their waste into your drinking water, but never mind that. Only we can protect you from gay, Spanish-speaking flag-burners!“

Diese »duping hypothesis«, also die Hypothese, rechtskonservative Parteien würden ihre Wählerschaft täuschen und mit Tricks dazu bringen, ihre Interessen zu vergessen, widerlegt Haidt, indem er darauf hinweist, dass diese Wählerschaft andere Präferenzen hat: Sie ist bereit, die wirtschaftlichen Schäden in Kauf zu nehmen, weil sie besonderen Wert auf Autorität, Loyalität und die »Heiligkeit« von z.B. nationalen Werten legt.

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Meine Meinung: Ich finde Haidts Ansatz deshalb spannend, weil er eine Wahl als eine Entscheidung auffasst und zeigen kann, welche Interessen gegeneinander abgewogen werden. Natürlich basieren diese Entscheidungen häufig auf einer falschen Einschätzung der Realität – worauf Mooney hinweist. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass Rechtskonservative sich dadurch auszeichnen, dass sie eine Glaubensgemeinschaft bilden. Will man sie von anderen Positionen überzeugen, muss man über ihren Glauben argumentieren: Ihnen zeigen, dass sie loyal bleiben, wenn sie sich anders entscheiden.

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Zusatz 12. Juni 2012: Im Freitag erscheint heute eine Kritik an Haidts Buch. Darin bemängelt George Monbiot, dass Haidt keine Belege für das Wahlverhalten der Bevölkerung anführe. Konkret: Psychologisch mag Haidt Recht haben, politisch liegt er daneben, weil heute zum Beispiel in den USA mehr Menschen aus sozial tieferen Schichten Demokraten wählen, aber insgesamt weniger abstimmten gehen. Monbiots Fazit:

Wenn Haidt und seine Bewunderer Recht hätten, bestünde die richtige Strategie für Labour, die US-Demokraten und andere ehemals fortschrittliche Parteien darin, sogar noch weiter nach rechts zu schwenken. Wenn aber das Problem in Wahrheit nicht darin besteht, dass die abhängig Beschäftigten ihre Wahlpräferenzen gerändert haben, sondern dass sie überhaupt nicht mehr wählen gehen, weil sie zwischen den ihnen offerierten politischen Angeboten keinen Unterschied erkennen, besteht das richtige politische Rezept im genauen Gegenteil: Wieder weiter nach links zu rücken und nicht „Ordnung und nationale Größe“ in den Vordergrund zu stellen, sondern Fürsorge und wirtschaftliche Gerechtigkeit.