Ja, früher war alles so schön einfach, so klar. Man konnte rauchen wie ein Schlot, weil es die Medizin noch nicht besser wusste. Die Erde war eine Scheibe, weil kein Seemann jemals an ihren Tellerrand gefahren war. Die einen konnten Kapitalismus richtig gut finden, weil es noch keine Finanzkrise gab. Die anderen träumten absolut entschieden vom Kommunismus, weil man die Morde des Stalinismus als antikommunistische Propaganda abtun konnte und weil er ja überhaupt noch im Regal mit den Systemangeboten auslag.
Eva Berendsens lesenswerter Essay aus der FAZ vom 13. Februar weist auf einen Aspekt hin, der auch in der von der Weltwoche inszenierten Polemik gegen den Chefredaktor des Tages-Anzeigers, Res Strehle, von Belang ist. Roger Köppel, das Pendant Strehles bei der Weltwoche, formuliert das wie folgt:
In der schweizerischen Öffentlichkeit wäre es heute undenkbar, einen früheren Nationalsozialisten als Chefredaktor einer grossen meinungsbildenden Zeitung anzustellen. […] Ganz anders ist es, wenn heutige Journalisten oder Politiker in früheren Jahren für den internationalen Sozialismus und seine mörderischen Ikonen trommelten. Obschon sich die Schreckensideologien in nichts nachstehen, hat es sich irgendwie eingebürgert, dass man die linke Militanz als weniger schlimm empfindet als ihr rechtes Pendant.
Und in einem Interview führt er aus:
Die verdrängte Vergangenheit vieler Linker ist ein interessantes und wichtiges Thema. Es ist doch zeitgeschichtlich hoch interessant und relevant, den Linksextremismus in der Schweiz zu untersuchen. Diese Abgründe sind kaum ausgeleuchtet, vermutlich deshalb, weil prominente Journalisten wie Res Strehle mittendrin waren.
![Weltwoche: »In einem Abschnitt, der sich vorgeblich mit Antisemitismus in der Schweizer Wirtschaft befasst, greifen die israelfeindlichen Autoren selber in den Giftschrank: «Prominente Juden im Dienste des Grosskapitals», schreiben Strehle/Kistler, «verbergen ihre Herkunft, um die Exportinteressen ihrer Firma nicht zu gefährden.» Gemünzt war der Vorwurf explizit auf den Schweizer Atomkraftbefürworter und «Energiepapst » Michael Kohn. «Juden im Dienste des Grosskapitals»? Was immer sich Strehle dabei gedacht haben mag: Solche Formulierungen rufen einen klassischen Topos sowohl des rechten wie des linken Antisemitismus auf […]«](https://phwampfler.wordpress.com/wp-content/uploads/2013/02/bdeex7_cmaaeq.jpg?w=550&h=737)
Originalseite Strehles in der WoZ. Kommentar in der Weltwoche dazu: »In einem Abschnitt, der sich vorgeblich mit Antisemitismus in der Schweizer Wirtschaft befasst, greifen die israelfeindlichen Autoren selber in den Giftschrank: «Prominente Juden im Dienste des Grosskapitals», schreiben Strehle/Kistler, «verbergen ihre Herkunft, um die Exportinteressen ihrer Firma nicht zu gefährden.» Gemünzt war der Vorwurf explizit auf den Schweizer Atomkraftbefürworter und «Energiepapst » Michael Kohn. «Juden im Dienste des Grosskapitals»? Was immer sich Strehle dabei gedacht haben mag: Solche Formulierungen rufen einen klassischen Topos sowohl des rechten wie des linken Antisemitismus auf […]«
- Gibt es zweierlei Maßstäbe im Umgang mit rechtem oder linkem Extremismus oder ist das ein Topos des rechtskonservativen Diskurs?
- Wann müssen sich Menschen von ihren früheren Standpunkten distanzieren? Können sie das überhaupt?
- Wo endet das Recht auf Widerstand gegen einen ungerechten Staat und wo beginnt »Terrorismus«? Wenn mit Claudio Zanetti ein Vertreter der rechtskonservativen Ideologie die Möglichkeit des bewaffneten Widerstands legitimiert, ist das eine philosophische Aussage. Ging Strehles Haltung darüber hinaus?
- Gibt es denn die politische oder ideologische Unschuld noch? Kann man sich als Freundin des Kapitalismus davon distanzieren, dass Menschen ausgebeutet werden und ihre Lebensgrundlage verlieren, weil andere mehr Kaufkraft haben? Oder als Sozialist in die Utopie retten, dass alle politisch umgesetzten Formen von Sozialismus Menschen unfrei gemacht haben und mit großem Leiden verbunden waren? – Ist nicht, wer eine Haltung einnimmt, auch automatisch mit den negativen Auswüchsen dieser Haltung verbunden?
Letztlich geht es aber wohl nur um das »Freund/Feind-Schema«, das in solchen Debatten immer wieder aufflackert. Klaus Kusanowsky schreibt dazu:
Diese Antisemitismus-Debatten stellen praktisch ein gesunkenes Kulturgut dar, das in dieser Freund/Feind-Unterscheidung besteht. Früher wurde dieses Freund/Feind-Schema für eine sehr gefährliche Angelegenheit genutzt, nämlich für Kriege und Massenmord. Seitdem in Deutschland keiner mehr so einfach Kriege führen und Massenmorde begehen kann und will, stellt sich die Frage, was mit dieser Unterscheidung noch anzufangen wäre. Eine Möglichkeit besteht darin, sie zu nostalgischen Zwecken zu benutzen, um eine Erinnerung an ihrer ehemaligen Gefährlichkeit wachzuhalten, was allerdings nur unter sehr ungefährlichen Bedingungen möglich ist. Speziell auf diese Antisemitismus-Debatten bezogen heißt das, dass sie nicht nur ganz ungefährlich sind, sondern auch, dass das Freund/Feind-Schema nur noch sehr ungefähr funktioniert.