Die Zeit der politischen Widersprüche

Wie es seit längerem keine verbindlichen Werte mehr gibt, an denen man sich orientieren könnte, gibt es in der Schweiz heute auch politisch keine kohärenten Haltungen mehr. Das zeigt sich bei einigen Parteien wegen des Aufstiegs der SVP seit längerem – bei der SVP selbst aber erst seit letztem Herbst. Zuerst aber kurz zu den Widersprüchen, in denen die etablierten Parteien gefangen sind:

  • Die FDP orientiert sich an der Vorstellung des Liberalismus, also daran, dass optimale politische Systeme den Menschen möglichst viel individuellen Handlungsspielraum lassen. Diese Vorstellung vertritt die Partei aber nur in einem sehr beschränkten Bereich: In Bezug auf die wirtschaftlichen Rechte von Unternehmen. In allen anderen politischen Bereichen engt sie Spielräume ein, anstatt sie zu vergrößern.
  • Die CVP ist eine dezidiert christliche Partei, für die Familien eine große Rolle spielen. Resultat müsste eine soziale Politik sein, die aber im Widerspruch zu den Lobbys steht, welche die CVP vertritt. Resultat: Eine christliche Familienpartei trägt den Sozialabbau mit.
  • Die SP steht für die »Arbeiterinnen und Arbeiter« ein, oder »für alle statt für wenige«. Dabei ist aber unklar, wer denn alle genau sind und wie man sich für alle einsetzen könnte: Letztlich stehen die sozial Schwächsten im Fokus, die sich für die Partei aber kaum mehr interessieren.
  • Die Grünen ermöglichen scheinbar die klarste Orientierung am Primat des Umweltschutzes. Im Detail ist das Programm aber höchst unklar: Lieber Landschaften schützen oder nachhaltige Energieversorgung ermöglichen?
  • Auch bei den kleineren Mitteparteien sind die Widersprüche nicht kleiner: Die GLP trägt ihn im Namen, die BDP ist eine Art moderate SVP ohne klare Positionen, die EVP hat die Probleme der CVP.

Die SVP, so meine These, konnte deshalb so schnell so stark wachsen (Bild von Raskalnikovs Blog):

Die Partei konnte ihre Widersprüche durch eine thematische Verengung ausblenden. Was ist damit gemeint? Unter der konsequente Führung von Christoph Blocher und seinen Vertrauten fokussierte sich die Partei auf zwei Themen: »Wir Schweizer gegen die anderen (Ausländer, EU)« und »Wir Fleissigen, Traditionsbewussten gegen die anderen (Städter, classe politique in Bern, Linken)«.

Die funktionierte deshalb besonders gut, weil die angekündigte Opposition rhetorisch schon möglich war: Es war leicht, alle anderen zu kritisieren. Lösungen mussten weder gefunden noch vorgeschlagen werden, weil Lösungen die Probleme allenfalls gelöst hätten, die die Partei stark gemacht haben.

Im letzten halben Jahr hat sich die Partei aber auf einen Abnützungskampf gegen die SNB und Hildebrand eingelassen. Während bei Bundesrätin Widmer-Schlumpf der Mythos Blocher als Narrativ funktioniert hat, kann man die Geschichte Blocher gegen Hildebrand nicht sauber erzählen: Zu klar ist, dass Hildebrands »moralische« Verfehlung eine Bagatelle ist und der Mann ein angesehener, gar beliebter Experte, der wichtige Sachgeschäfte betreut hat. Zudem kann nicht vermittelt werden, welche Haltung die Partei in Bezug auf den Euro-Wechselkurs und die Möglichkeiten der Nationalbank hat, das Geschäft passt nicht ins klare SVP-Schema und ist auch zu kompliziert.

Ähnlich die Haltung in Bezug auf das Gesundheitswesen: Die Forderung der Parteileitung, das Krankenkassenobligatorium abzuschaffen, passt zwar zur Orientierung an der Themensetzung und am Politstil der amerikanischen Nationalkonservativen, die sich an der Opposition »Freiheit gegen staatliche Kontrolle« orientieren. Diese Opposition funktioniert in der Schweiz jedoch nicht: Es gibt sehr wenige Menschen, die vom Prinzip abrücken möchten, dass eine umfangreiche Grundversicherung die Krankheitskosten übernimmt.

Wie dramatisch die SVP an politischer Macht verloren hat, zeigt die AUNS-Initiative, die gefordert hat, Staatsverträge müssten von den Stimmberechtigten ratifiziert werden: Die Initiative hat weniger als 25% Ja-Stimmen erreicht, obwohl sie klar an den Polen »Schweiz gegen Ausland« orientiert war. In den großen Abstimmungen schaffte die AUNS es meist, mehr als 45% der Stimmen auf ihren Positionen zu vereinen.

Meine Prognose ist: Die vier großen Bundesratsparteien werden längerfristig nicht mehr als 20% der Stimmen auf sich vereinen können – dank ihrer großen und mächtigen Organisationen zwar bedeutsam bleiben, aber inhaltlich keine Orientierung mehr vermitteln können. Das schafft Raum für klar positionierte, neue Parteien – die Piratenpartei wäre eine Kandidatin, aber auch am rechten Flügel oder bei Sachthemen könnten durchaus Bewegungen entstehen, welche die Möglichkeiten einer thematischen Verengung nutzen könnten.