Was meint »antidemokratisch«?

Duden.de, Schlagwort »antidemokratisch«

Wie der Begriff der Demokratie, so ist der Vorwurf, jemand handle »antidemokratisch«, zu einem Schlagwort geworden. Gestern habe ich Regula Stämpfli unter anderem mit den Worten zitiert:

Wer die Sprache zugunsten von Zahlen aus der Demokratie streicht, handelt antidemokratisch.

Im einfachsten Sinne (Duden) handelt jemand antidemokratisch, wenn er oder sie sich gegen die Demokratie richtet.

Man kann das nun generell tun und sich gegen die Demokratie als System richtigen. Julie Zeh schrieb dazu in ihrem Essay Supranationales Glänzen (in: Alles auf dem Rasen: Kein Roman, S. 167):

Die Begründung für die Alternativlosigkeit der Demokratie kam nie über die Bemerkung hinaus, dass Demokratie die schlechteste unter aller Staatsformen sei – abgesehen von sämtlichen anderen. Trotz nachlassenden Interesses der Bürger an der Politik wagte niemand den Gedanken, dass die Demokratie sich überlebt habe, dass die Politikverdrossenheit kein vorübergehendes Phänomen, sondern ein Zeichen dafür sei, dass der Wille aufhörte, vom Volke auszugehen.

Dieses Zitat könnte man in einem allgemeinen Sinne als antidemokratisch bezeichnen – indem bestritten wird, ihre Grundlagen seien weder gut begründet noch unveränderlich.

Betrachtet man die Definition moderner Demokratien etwas genauer, kann der Begriff »antidemokratisch« differenziert werden. Zu einer Demokratie gehören folgende Elemente – wenn man die Theorie etwas vereinfacht:

  • legitimierte Entscheidungsfindungsprozedur für politische Normen (z.B. Gesetze)
  • Garantie der Grundrechte jedes Einzelnen gegenüber dem Staat, gegenüber gesellschaftlichen Gruppen (insbesondere religiösen Gemeinschaften) und gegenüber anderen Einzelpersonen
  • Gewaltenteilung zwischen den Staatsorganen Regierung [Exekutive], Parlament [Legislative] und Gerichten [Judikative]
  • allgemeines und gleiches Wahlrecht
  • Meinungs- und Pressefreiheit
  • Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit

Damit ist nun z.B. eine Definition von »antidemokratisch« möglich, welche Autonome einschließt, die eine Demonstration von AbtreibungsgegnerInnen stört (vgl. den Blogpost von Andreas von Gunten dazu) – weil die sich gegen die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit richten.

Oder man könnte die Verhinderung des Stimm- und Wahlrechtes für AusländerInnen als antidemokratisch bezeichnen, weil dadurch verunmöglicht wird, dass dieses Recht allgemein und gleich ist (vgl. dazu verschiedene Artikel in der NZZ).

Damit ist aber noch nicht bestimmt, was Stämpfli mit dem Begriff meint, wenn sie sagt, das Ersetzen von »Sprache« durch »Zahlen« sei eine antidemokratische Handlung. Es ist davon auszugehen, dass sie damit einen etwas engeren Entscheidungsfindungsprozess meint: Dieser basiert idealerweise auf dem, was Jürgen Habermas einen »herrschaftsfreien Diskurs« genannt hat. Er ist bestimmt durch »de[n] zwanglose[n] Zwang des besseren Arguments und das Motiv der kooperativen Wahrheitssuche«. Das heißt: Demokratie findet dann statt, wenn Argumente ausgetauscht werden und gemeinsam nach einer (politischen) Wahrheit gesucht wird. Und das kann nur in einem Gespräch passieren.

In diesem Sinne können auch die Strategie und Organisation der SVP (wie auch verschiedener Wirtschaftsverbände in der Schweiz, Lobbyisten und armeenahe Vereinigungen), die parteiintern und auch im politischen Handeln teilweise versucht, Gespräche und den freien Austausch von Argumenten zu verhindern, als antidemokratisch bezeichnet werden. Urs Widmer bestreitet aus diesen Gründen in der Zeit, dass die SVP eine Partei sei:

Ich halte Herrn Blocher und seine Partei für eine große Gefahr für dieses Land. […] Weil die SVP gar keine Partei ist, sondern eine Nebelmaschine. Der Nebel besteht hauptsächlich aus Kosovaren, die Schweizer aufschlitzen, und aus anderen fremdenfeindlichen Themen. Hinter dem Nebel machen aber einige, die selber sehr reich sind – Herr Blocher allen voran –, eine Politik der Reichen. Das ist keine Politik des kleinen Mannes. Diese Vernebelung ist eine gefährliche Sauerei. Es geht um Macht.

Aufgaben – und mal wieder Facebook und Feminismus

Immer wieder werde ich von LeserInnen meines Blogs gefragt, warum ich denn in Foren und in den Kommentarfunktionen mit Leuten diskutiere, die erstens kaum zu einer Diskussion bereit scheinen, weil sie sich eine Meinung gebildet haben, die auch kaum einer Diskussion würdig sei. Ein viel bessere Antwort, als ich sie geben könnte, habe ich heute in einer längeren Rede von Jürgen Habermas gefunden, an deren Ende er schreibt:

Der Intellektuelle soll ungefragt, also ohne Auftrag von irgendeiner Seite, von dem professionellen Wissen, über das er beispielsweise als Philosoph oder Schriftsteller […] verfügt, einen öffentlichen Gebrauch machen. Ohne unparteiisch zu sein, soll er sich im Bewusstsein seiner Fallibilität äussern. Er soll sich auf relevante Themen beschränken, sachliche Informationen und möglichst gute Argumente beisteuern, er soll sich also bemühen, das beklagenswerte diskursive Niveau öffentlicher Auseinandersetzungen zu verbessern. […] Und er darf den Einfluss, den er mit Worten erlangt, nicht als Mittel zum Machterwerb benutzen, also «Einfluss» nicht mit «Macht» verwechseln. In öffentlichen Ämtern hören Intellektuelle auf, Intellektuelle zu sein.
Dass wir an diesen Massstäben meistens scheitern, ist nicht erstaunlich; aber das kann die Massstäbe selbst nicht entwerten. Denn die Intellektuellen, die ihresgleichen so oft bekämpft und totgesagt haben, dürfen sich eines nicht erlauben – zynisch zu sein.

In diesem Sinne drei kurze Bemerkungen:

  1. Facebook und Social Media als Garanten für Meinungsäußerungsfreiheit?
    Durch diesen Artikel in der FAZ am Sonntag bin ich auf die Gedanken von Evgeny Morozov gestossen, der in diesem längeren Gespräch mit Clay Shirky in der FAZ einen kritischen Blick auf den Umgang mit sozialen Medien wie Twitter in autoritären Staaten wirft. Das Gespräch ist sehr differenziert und eine lohnende Lektüre, welche die verbreitete These, die Protestaktionen im Iran hätten von Twitter profitiert oder seien gar darauf zurückzuführen, zumindest hinterfragt, wenn nicht gar widerlegt (und die meisten Leute, welche ich kenne, wissen von Twitter wenig mehr als eben diese These). Hier einige Zitate aus dem Gespräch:
    .»Sollten wir uns nicht auch fragen, ob das Netz die Menschen empfänglicher für nationalistische Botschaften macht? Oder ob es eine gewisse – hedonistisch gefärbte – Ideologie befördern könnte, die die Menschen faktisch mehr denn je von einem sinnvollen politischen Engagement abhält? Verhilft es in autoritären Staaten sogar bestimmten nichtstaatlichen Kräften zur Macht, die nicht unbedingt auf Demokratie und Freiheit hinarbeiten? Dies alles sind schwierige Fragen, die wir nicht beantworten können, wenn wir uns nur darauf konzentrieren, wer während einer Protestwelle einen Machtzuwachs verzeichnet – der Staat oder die Demonstranten.«
    .»Wie Robert Putnam gezeigt hat, schafft Sozialkapital Werte für Menschen innerhalb eines Netzwerks, während es den Menschen außerhalb des Netzwerks Nachteile bringt. Ich glaube nicht, dass Kommunikationsfreiheit automatisch zu prowestlichen Regierungen führt.«
    .»Ich bin ebenfalls nicht sicher, ob Blogger so großartige Symbole für regierungskritische Kampagnen sind. Die gewöhnlichen unpolitischen Menschen, über die wir sprechen, die, die am Ende den Mut aufbringen, auf die Straße zu gehen und die Staatsgewalt herauszufordern: Diese Menschen müssen von Leuten angeführt werden, die bereit sind, mutig für ihre Sache einzutreten, sich zu opfern, ins Gefängnis zu gehen und die nächsten Havels, Sacharows oder Solschenizyns zu werden.«
  2. Facebook und Privatheit.
    Die NZZ bzw. Joachim Güntner greifen in einem längeren Artikel mal wieder das Klischee auf, wonach Facebook einen Bereich der Privatsphäre verletze, der absoluten Schutz genießen müsse, und Menschen mit einem Profil einer diffusen Bedrohung ausgeliefert seien, welche sie einmal (z.B. bei einem Jobwechsel) einholen werde. Güntner fragt dann aber bezeichnenderweise: »wird der Leser Goffmans nicht auch bei Facebook manches interpersonelle Ritual wiederfinden, das der Soziologe beschrieb, als er von der Knüpfung und Belebung sozialer Kontakte handelte? Das Ritual der Bestätigung etwa, mit dem wir eine Äusserung einer Person oder auch eine Änderung in ihrer Lebenssituation quittieren – Glückwünsche, Lob, Neckereien, Beileid, Herstellung von Eintracht im Gespräch über Nichtigkeiten.« Und die Antwort ist natürlich: Ja, er wird. Facebook dient zur Pflege von Kontakten, und genau so wie wir im richtigen Leben Kontakte pflegen, indem wir interagieren und anderen Leute Dinge über uns mitteilen, genau so tut man das auf Facebook. Wer darauf einwenden will, dass die Daten bei Facebook aber für die Ewigkeit gespeichert und sich meiner Kontrolle (Daten entziehen sich eigentlich immer meiner Kontrolle) entziehen, soll einmal 5 Personen seiner Wahl googlen – und sich mal überlegen, wie brisant denn das im Extremfall sein könnte, was man über diese Personen herausfindet.
  3. Feminismus.
    Heute bin ich mal wieder – Sibylle Berg sei Dank – über den dämlichsten Schweizer gestolpert: René Kuhn. Der hat als neuestes Projekt ein Konzept entwickelt, das er »Antifeminismus« nennt. Der Mann denkt dermassen verworren, dass zu seinen Ergüssen nicht viel gesagt werden muss. Beängstigend ist aber sein Verständnis von Feminismus, gegen den er sich wendet: Er versteht Feminismus als eine Bewegung, welche erstens Frauen mit Privilegien ausstatten (und Männer in der Folge diskriminieren) wolle und zweitens Geschlechterrollen einführen wolle, welche unnatürlich seien (weil Frauen nichts wollen als eine Familie und Männer dafür bestimmt sind, zu arbeiten und Politik zu betreiben).
    Diese verquere Definition, die natürlich nicht auf Quellen beruht (Kuhn zitiert einmal de Beauvoir und einmal Schwarzer, aber völlig aus dem Kontext gerissen), ist verbreiteter als man denken könnte. Kaum jemand kann sich heute als Feministin bezeichnen, ohne mitleidig belächelt (weil Frauen dürfen ja schon alles) oder angefeindet zu werden (»die ist einfach verbittert, weil sie keinen Mann gefunden hat«).
    Dazu vielleicht nur zwei Gedanken:
    a) Feminismus heißt, zu erkennen, dass Geschlecht aus einer biologischen und einer sozialen Komponente besteht und Rollen veränderbar sind und aufgelöst werden sollen – dass es generell keine Rolle spielen darf, ob jemand eine Frau oder ein Mann ist.
    b) Die Schweiz ist – beispielsweise hinsichtlich der Möglichkeit für eine Frau, Karriere und Familie miteinander zu verbinden – in Sachen Gleichberechtigung und Frauenrechte im Vergleich mit den meisten europäischen Staaten extrem rückständig.