Die Angst vor der kommenden Diktatur

»Hast du keine Angst, dass wir in 10 Jahren in einer Diktatur leben und den Herrschenden dann deine politischen Ansichten bekannt sind, weil du sie auf dem Internet publizierst?«, wurde ich diese Woche beim Bier gefragt. Die Frage war eine Secondhand-Frage und der Erfinder der Frage muss, so wollen wir annehmen, Züge von Paranoia aufweisen. Dennoch hat mich die Frage nicht losgelassen.

Sie enthält, so denke ich, zwei Komponenten:

  • Ist es denkbar, dass wir (=WesteuropäerInnen) dereinst in einer Diktatur leben?
  • Muss ich mich mit dem Äußern von Ansichten und Einstellungen zurückhalten, weil mir das in der Zukunft schaden könnte?

Die erste Frage ist kaum zu verneinen. Es war in Wien 1910 wohl auch nicht denkbar, dass man einst in einer Diktatur leben würde, und in Budapest wohl noch weniger, dass sich die Diktaturen gleich die Hand reichen werden. Die Massnahmen, die verhindern, dass Demokratien zu Diktaturen werden, verblassen wohl vor den Massnahmen, mit denen Diktatoren bereit sind, Demokratien zu beseitigen. Zudem scheinen wirtschaftliche Interessen für Menschen immer vor politische Freiheit zu kommen – und die Aussicht auf wirtschaftliche Prosperität wird wohl so lange es Menschen gibt einen Anreiz schaffen, Unfreiheit zu ertragen und zu ermöglichen.

Damit wären wir bei der zweiten Frage. Hier ist die Antwort wohl eher nein. Natürlich würden wir denken, eine 15-jährige, die eine eugenische Phase durchlebt, sollte sich zurückhalten, die Abtreibung aller in ihren Augen minderwertigen Lebensformen in einem Blog zu propagieren, wenn sie dereinst eine spannende Stelle finden will. Aber ein erwachsener Mensch, dessen Ansichten sich in einem nicht-extremistischen Spektrum bewegen, der mit sich diskutieren lässt, eine gewisse geistige Flexibilität aufweist – der sollte von seinem Recht, seine Meinung äußern zu dürfen, wohl Gebrauch machen können. Sollte mir das dereinst schaden – dann werde ich dafür die Verantwortung übernehmen müssen.

Die Vorstellung, dass mir aber alles, was ich jetzt tue, schaden könnte (vielleicht verlangt die Diktatur von uns auch, dass wir alle einen Blog betreiben, und setzt drakonische Strafen für all die aus, die sich im Internet zurückhalten), ist dermassen lähmend, dass ich mich ihr momentan noch verweigern muss.