Zur Überwindung des Kapitalismus

Die Nachrichten aus Nordafrika, so erschütternd oder bewegend sie sein mögen, zeigen zunächst, wie wenig Ahnung ich von politischen Prozessen in eigentlich nahe gelegenen Ländern habe. Die Frage, weshalb gerade jetzt Diktatoren, die Jahrzehnte im Amt waren, gestürzt werden, mag eine komplexe sein: Letztlich denke ich jedoch, dass solche Revolutionen primär durch wirtschaftliche Auslöser gestartet werden (vgl. z.B. Paul Krugmans Erörterung der Zusammenhänge zwischen den Ereignissen in Ägypten und dem Klimawandel): Leute sind nur dann bereit, Regierungen zu stürzen, wenn sie sich bessere wirtschaftliche Verhältnisse erhoffen. So edel die Forderung nach Demokratie klingen mag – zunächst geht es wohl darum, dass es für alle erschwinglich ist, möglichst viele Grundbedürfnisse zu decken.

Nun könnte man denken, dass also die Forderung nach Demokratie immer auch eine Forderung nach Kapitalismus ist – weil dieses System es allen ermöglicht, so die Theorie, gemäss ihrer »Leistung« entschädigt zu werden. Und das, so das Axiom, ist es, was alle Menschen wollen.

Was alle Menschen wollen, muss aber präziser gefasst werden: Sie wollen, dass es ihnen und den ihnen wichtigen Menschen möglichst gut geht. Alles andere interessiert sie wenig – ob dieses Wohlergehen auf einer Leistung basiert, ob dieses Wohlergehen mit dem Leiden anderer Menschen verbunden ist, ob dieses Wohlergehen die Natur zerstört. Man mag das ein pessimistisches Menschenbild nennen, das ist es wohl auch.

Nun kann man natürlich argumentieren, dass der Kapitalismus besser als jedes andere System in der Lage ist, möglichst vielen Menschen das zu geben, was sie wollen. Diese Sicht ist aber äußerst euro- oder amerikazentrisch: Sie erfordert, dass man ausblendet, wer unsere Kleider näht, unsere Laptops baut, unsere Rohstoffe abbaut, wessen Meere für uns leergefischt werden und welche Urwälder für uns abgeholzt werden. Blendet man all das ein, merkt man, dass der Kapitalismus wohl wenigen Menschen das gibt, was sie wollen – aber sehr vielen eine Rolle zuweist, die sie nicht wollen.

Diesen Menschen müsste man also sagen, was Bernd Ulrich in der Zeit in Bezug auf die Flüchtlinge aus Tunesien schreibt:

Im Kern sagen wir all den armen Flüchtlingen da draußen in der Welt, dass wir sie fernhalten dürfen, weil wir es wollen, dass wir es tun, weil wir es können. Aus schlichtem Egoismus, der menschlich verständlich, aber nicht sehr menschlich ist, den wir auch nur durchhalten können, weil wir ihn den Flüchtlingen nicht ins Gesicht sagen müssen. Und eben weil es das Schweigekartell gibt, das Verdrängen der unmoralischen Seite unseres Lebens durch Geschäftigkeit.

Die Forderung, der Kapitalismus müsse überwunden werden, steht in diesem Kontext nicht als eine illusorische Vision da, sondern als die logische Reaktion auf eine Bestandesaufnahme mit offenen Augen – unter Einbezug aller Variablen. Die Forderung mag nicht opportun sein und sie mag nicht das sein, was Menschen gerne hören, die sich in ihrem Einfamilienhaus die Füsse an der Bodenheizung wärmen. Aber sie ist konsequent und mutig.

Und sie muss den dummen Einwand, Überwindung des Kapitalismus bedeute Kommunismus und der habe historisch noch keine glänzenden Resultate gezeitigt, nicht fürchten: Welche grossartige Bilanz kann denn der Kapitalismus aufweisen? Hat er Kriege verhindert, hat er Leiden verhindert, hat er den Welthunger beseitigt? Und warum kann der Kapitalismus nur auf eine bestimmte Art überwunden werden, deren negative Auswirkungen man zur Genüge kennt? Kann eine Vision nicht ein Ziel benennen, ohne den konkreten Weg später zu erarbeiten?

Postdemokratie

Da zum Wahljahr 2011 schon fast alle Prognosen gemacht sind und wir wissen, dass alle Parteien außer der SVP verlieren werden und dass insbesondere die SP auch 2011 geprügelt werden kann, weil sie keine Mittepartei sein will, was sich der Politjournalismus offenbar sehnlichst wünscht – da lohnt es sich vielleicht, sich ein Konzept in Erinnerung zu rufen, von dem man (wie ich) vielleicht schon mal gehört hat, es aber zurück in den mentalen Theorieschrank gestellt haben könnte (wie ich).

Es handelt sich um Colin Crouchs Begriff der Postdemokratie (Bonn, 2008; im Original 2004; empfehlenswert ist die Lektüre dieses Interviews in der taz). Er bezeichnet damit

ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden […], in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. (S. 10)

Postdemokratie ist immer noch ein demokratischer Zustand, so Crouch – in dem aber die Demokratie nicht viel mehr als Schein ist. Während es so aussieht, als führten demokratische Prozesse zu Entscheidungen, sind für diese Entscheidungen eine schmale Elite von UnternehmerInnen und Lobbyisten verantwortlich.

Zu diesem Schein trägt die Organisation der Medien bei, die ebenfalls wenige Menschen kontrollieren.

Eine Postdemokratie sieht klassenlos aus, ist es aber nicht: »unter dem Deckmantel der Rhetorik der Marktwirtschaft und des freien Wettbewerbs« genießen UnternehmerInnen politische Privilegien. Zudem sind Reichtumsunterschiede für neue Formen von Klassen verantwortlich, welche aber nach dem Zerfall der Arbeiterklasse kaum mehr sichtbar gemacht werden können. (Ein schönes Beispiel dafür ist wohl der Steuerwettbewerb in der Schweiz, zusammen mit der Pauschalbesteuerung läuft er nur auf Privilegien für besonders reiche Menschen heraus, was aber mit Argumenten wie »Föderalismus« und in Abstimmungen als eine Eigenschaft einer funktionierenden Demokratie verkauft wird.)

Ein Zeit-Artikel bringt Crouchs Werk wie folgt auf den Punkt:

[A]lle große Parteien [haben] nur noch ein Programm, nämlich die »Anpassung« an den Sachzwang der Wirtschaft. Sie zersägen den Wohlfahrtsstaat, kürzen lebhaft Sozialleistungen, senken Unternehmenssteuern und gern auch die Löhne.

Crouch entwirft drei mögliche Auswege aus den Problemen einer Postdemokratie (er behauptet nicht, dass wir uns schon in diesem Zustand befänden, sondern dass sich Demokratien generell diesem Zustand annäherten):

  1. Wachsende Dominanz ökonomischer Eliten einschränken.
  2. Reformen der politischen Praxis.
  3. Handlungsmöglichkeiten für BürgerInnen.

Dabei (3.) warnt Crouch vor extremistischen Bewegungen von »WutbürgerInnen« – gerade darum geht es ihm nicht; sondern beispielsweise um die Möglichkeiten des Internets, wie dieser Webkompetenz-Post aufzeigt.

Martin Lindner präzisiert denn auch:

http://twitter.com/#!/martinlindner/status/22015551551315970

Um die Schweiz aufzugreifen (aus gesamteuropäischer Perspektive würde die Schweiz allerdings wohl als die am wenigsten post-demokratische Nation gelten), müsste man 1. – 3. ungefähr so konkretisieren:

  1. a) Klare Beibehaltung von progressiver Besteuerung und Einschränkung des Steuerwettbewerbs.
    b) Staatliche Parteienfinanzierung, Spenden von Privaten und Unternehmern verbieten.
    c) Klarere Trennung von Politik und Wirtschaft in Bezug auf Verwaltungsratsmandate etc.
  2. a) Verfassungsgerichtsbarkeit.
    b) Durch 1.b) herbeigeführte Reduktion der Mittel für Propaganda und Marketing der Parteien.
    c) …
  3. Wohl der schwierigste Punkt: Ich sehe vor allem auch im Internet und den Möglichkeiten, sich auf verschiedenen Plattformen (Vimentis, Politnetz etc.) zu informieren, ohne in diesem Diskurs durch wirtschaftliche Faktoren oder Parteienpolitik eingeschränkt zu werden, eine Möglichkeit.

Um weitere Ideen wird gebeten…

* * *

Und um den Teufel noch an die Wand gemalt zu bekommen:

Wir hätten es anders wollen müssen. Wenn Europa in einen neuen Faschismus marschiert, können sich die Bürger das selbst zugute halten. Sicher, es werden andere Schuldige gefunden werden, die üblichen Verdächtigen: Moslems, Zigeuner, Kommunisten. Die Feindbilder werden täglich von den Medien und aus den autoritären Regierungsbunkern genährt. Das ist jederzeit abrufbar.

Weg damit – Bilanz eines »Jahrzehnts«

Der Titel der Zeit zum neuen Jahr – ohne Kommentar, aber mit Kopfnicken. Ja, ja – weg damit.

(klicken, dann wirds größer)

P.S.: Das Jahrzehnt ist noch nicht vorbei – eigentlich…

Payback – Frank Schirrmacher und die brave new digital world

Es gibt einen Grad von Unterdrückung, der als Freiheit empfunden wird. – Heiner Müller, Quelle

In seinem an die Payback-Karte angelehnten Titel – in der Schweiz müsste das Buch »Cumulus« heißen und darf nicht mit dem brillanten Essay von Atwood über den Umgang mit Schuld und Schulden verwechselt werden – beklagt der konservative deutsche Denker Frank Schirrmacher, der (post)-moderne Mensch sei nicht mehr Herr, sondern Knecht der digitalen Arbeitsmethoden. Während er glaube, den Computer zu benutzen – benutzt der Computer eigentlich den Menschen, um es pointiert auszudrücken.

Schirrmacher führt mehrere Argumente ins Feld:

  1. Die Benutzung von Computern verändert uns physisch. Neurologische Prozesse führen zu einer Anpassung unserer Kognition an die Vorgehensweise von Rechnern, insbesondere erwerben wir die Fähigkeit zum Multitasken. Schirrmacher beschreibt im Abschnitt »Mein Kopf kommt nicht mehr mit«, dass er sich unkonzentriert fühle und vergesslich geworden sei – und wertet diese Veränderung somit negativ.
  2. Die ständige Nutzung von digitalen Medien führt zu einer Unterdrückung der Menschen, welche sie glücklich als Freiheit erleben. Wer im Internet etwas sucht, findet auch – und meint, gefunden zu haben, was gesucht worden ist. Freier Wille wird suggeriert – tatsächlich wird aber durch mächtige Instanzen gesteuert, was man findet. Auch die totale Individualität digitaler Welten (iTunes sucht das Musikprogramm, das mir als Individuum entspricht) ist nichts als die Kontrollübernahme durch diese digitalen Welten (iTunes bestimmt, was mir als Individuum zu entsprechen hat).
  3. Die mangelnden Filter im Internet führen zu einem ständig ablaufenden Entscheidungsprozess, was wichtig/unwichtig oder relevant/irrelevant sei. Diese Entscheidungen überfordern den Menschen, Sie führen zu einer »Ich-Erschöpfung« (Roy Baumeister; Entscheidungen zu fällen ist für Menschen ein Kraftakt, siehe hier). Es sei zu fordern, dass Informationen dem Hirn unterzurodnen seien – und nicht die Hirnaktivität den Informationen.
  4. Es gibt einen »digitalen Darwinismus«: »fittest« heißt heute, am besten an die Informationen angepasst, als bestinformiert, und zwar nicht im Sinne von »wichtigen«/»relevanten« Informationen, sondern den Informationen, welche nach dem »Mätthäus-Effekt« als wichtig erscheinen.

Nun wird Schirrmacher zwar als konservativer Vordenker sofort breit und grundsätzlich positiv rezensiert vom Feuilleton, erfährt aber sofort auch Kritik der »digital natives«, der Menschen, welche mit dem Internet groß geworden sind. Diese Kritik ist sehr aufschlussreich, zeigt sie doch, wie Recht Schirrmacher eigentlich hat: Tim Cole moniert, Schirrmacher sei ein »digitaler Xenophobe«, der deswegen nicht mehr mitkomme, weil er keine Ahnung von der digitalen Welt hat. Damit nimmt er ein Argument auf, das in Technologiedebatten, wie die Zeit-Rezension erhellend anmerkt, seit einigen Jahren zu einer »self-evident truth« geworden ist: Wer technische Innovationen kritisiert, versteht sie nicht, sonst würde er sie nicht kritisieren (sehr verbreitet in der Gamer-Community: Wer Killerspiele verbieten will, hat noch nie welche gespielt oder nicht richtig, denn sonst würde er Spiele nicht verbieten wollen). Weiter schreibt Cole, Schirrmacher habe ein falsches Menschenbild, weil sich Menschen nicht beeinflussen liessen und sehr gut zwischen relevanten und irrelevanten Informationen unterscheiden können; um dann ein interessanten Evolutionsargument anzufügen:

Und Schirrmacher hat zweitens keine Ahnung von Evolution. Er kann – oder will – nicht erkennen, dass Homo Sapiens sich in den vergangenen Jahrtausenden stets und immer wieder einer veränderten Kommunikations- und Informationsumgebung anpassen musste, und dass er es ganz gut gemacht hat.

Die Informationsumgebung wird also eine natürliche Umgebung gesehen, an die sich der Mensch anzupassen hat – und nicht mehr als eine kulturell erschaffene Umwelt, welche auch verändert werden könnte (im Rahmen einer Anpassung, vielleicht). Die digitale Welt ersetzt also eine selektive Natur: Was nichts anderes als eines von Schirrmachers Argumenten ist, dass sich der Mensch der Technik untergeordnet hat und weiter unterordnen wird.

Soviel zur Kritik der Kritik, die mir im Moment noch sehr dünn erscheint. Nun aber zur Kritik an Schirrmacher noch meine Begegnung mit seinem neuen Buch:

  1. Ich lese meine Tweets (nicht Tweeds, ein offenbar peinlicher Schreibfehler in Schirrmachers Buch) und stosse auf diesen von @Zeitonline_all:
  2. Ich lese auf meinem iPhone unterwegs die Zeit-Rezension.
  3. Ich lese auf meinem Laptop auf dem Weg zur Arbeit (nächster Tag) die Renzension in der Süddeutschen Zeitung sowie Blogeinträge zu Payback.
  4. Ich drucke wichtige Texte aus und bearbeite sie mit dem Bleistift, ich lese sie also linear, wie Schirrmacher eine seiner Meinung nach gefähredete Tätigkeit bezeichnet:
  5. Ich schreibe den Blogpost, ohne auch nur in dem Buch gelesen zu haben.

Das mag nun problematisch erscheinen, hat aber auch Vorteile, es ist ein modernes Vorgehen. Es scheint mir ausgewogen, mehrperspektivisch zu sein, es ist eine effiziente Art zu Arbeiten, welche nicht obeflächlich ist, aber oberflächlich sein könnte. Und nebenbei habe ich Tweets gelesen, welche völlig sinnlos und irrelevant waren und auch solche Blogeinträge; ich verfüge aber über eine relativ gute Filterkompetenz.

Fazit: Das Diktat der Technik ist eine realistische Gefahr. Die Technik kann aber auch gegen sich selbst gewendet werden oder dazu benutzt werden, die drohende Gefahr zu mildern oder abzuwenden, weniger, aber wichtigere Entscheidungen von uns zu verlangen. Und die Technik hat uns nicht zur Konsumenten und Rezipienten gemacht, sondern auch zu Produzenten (wie ich hier). Steven Pinker, der amerikanische Populärpsychologe, hat gesagt, man solle, wenn man das Internet (Facebook etc.) kritisiere, mal darüber nachdenken, worüber man denn bei einem Abendessen am Familientisch so rede:

I mention this because so many discussions of the effects of new information technologies take the status quo as self-evidently good and bemoan how intellectual standards are being corroded (the ‚google-makes-us-stoopid‘ mindset). They fall into the tradition of other technologically driven moral panics of the past two centuries, like the fears that the telephone, the telegraph, the typewriter, the postcard, radio, and so on, would spell the end of civilized society.

»Sex mit Tieren«, Knäckebrote und Anti-Sexratgeber – Der Zeit-Sex-Blog

Via Marianas Blog bin ich auf den Sex-Blog der Zeit gestoßen (oder das Sex-Blog, wie es dort heißt): http://blog.zeit.de/sex/

Schon nur an den Top-Stories bekannter Newsportale kann man ablesen, wie beliebt das Thema Sex bei Internetlesern ist, und so beliebt es ist, so abgedroschen kommt es meist daher. Nicht im Falle dieses Beispiels. Es finden sich z.B. Hinweise auf diese beiden Clips, die ich einfach übernehme; zuerst der kreative Umgang mit Knäckebrot, dann ein lüsterner Papagei.



Kreativ auch der Umgang des Sexblogs mit Google und Titeln: »Sex mit Tieren« sei der Titel des Blogposts, weil das bei Google gut ankomme. Und deshalb übernehme ich auch das.