Die Bedeutung der politischen Mitte

Auch wenn politische Debatten immer stärker als polarisierte Grabenkämpfe inszeniert werden, geht es dabei letztlich nie um Pole. Es mag für Personen wie PolitikerInnen attraktiv erscheinen, sich klar an einem Pol zu positionieren.

Die amerikanische Budget-Debatte lässt aber in einer interessanten Interpretation von Mother Jones erahnen, dass WählerInnen in der Mitte der beiden Pole letztlich den Unterschied ausmachen. David Corn beobachtet, dass Obama stets zu Konzessionen gegenüber den Republikanern bereit ist, so dass ihm von linker Seite ein Verrat seiner eigenen Positionen vorgeworfen werden kann. Wer eine Staffel West Wing gesehen hat, weiß, wie berechnend eine Administration vorgeht und wie genau sie ihre potentiellen WählerInnen im Auge behält. Obama dürfte es darum gehen, diejenigen WählerInnen anzusprechen, die ihn wählen könnten, die aber auch republikanisch wählen könnten. In der Endausmarchung wird die progressive Linke ohnehin stark mobilisiert sein und Obama wählen – er kann nichts gewinnen, wenn er sie anspricht und mit Kampfrhetorik versucht Pluspunkte zu sammeln (und dabei Lösungen verhindert).

In der NZZ äußert sich dazu der amerikanische Journalist Fareed Zakaria:

Die Mitte zu suchen, ist [Obama] quasi angeboren. Aber damit riskiert er, die linke Basis der Demokraten zu verlieren. Und viele Unabhängige sind am politischen Geschehen weniger interessiert, als Anhänger extremerer Positionen. Die Umfragen der letzten Tage machen jedoch deutlich, dass die Wähler insgesamt allen Parteien und Politikern sehr schlechte Noten erteilen. In ihren Augen haben alle Mist gebaut und daher hat Niemand gute Umfragewerte. Die von Obama sind noch am besten. Ich vermute, dass er über die aktuelle Krise hinausschaut und kalkuliert, dass die meisten Amerikaner ihn in seiner Forderung nach einem ausgeglichenen Vorgehen in der Haushaltspolitik unterstützen – also Einsparungen und Steuererhöhungen zustimmen.

Ähnlich präsentiert sich meines Erachtens die Situation in der Schweiz. Nehmen wir drei Beispiele aus der Schweiz:

1. Die FDP.

Mit solchen Slogans spricht man die WählerInnen an, welche das Feinbild EU akzeptieren, gleichzeitig aber einsehen, dass Verhandlungen mit der EU nötig sind. Die FDP grenzt sich zwar von der SVP ab – aber übernimmt auch eine ihrer Positionen. Man spricht – so denke ich – Personen an, die kategorisch gegen einen EU-Beitritt sind, aber die bilateralen Verträge nicht gefährden wollen: Generell also Wählende rechts der FDP. Wer aber kategorisch gegen die EU eingestellt ist, wird wohl die Partei wählen, welche diese Einstellung am besten verkauft: Die SVP. Da gibt es für die FDP wenig zu gewinnen.

2. Die SVP.

Die Plakate, welchen einen Stopp der so genannten »Masseneinwanderung« fordern, benutzen die klassische Bildsprache der SVP. Wer sich vor dunkeln Gestalten mit großen Schuhen bedroht fühlt, wählt längst SVP. Wer sich vormachen lässt, durch einen Einwanderungsstopp könnte man auch nur ein Problem, das die Schweiz hat, nachhaltig lösen, wählt auch längst SVP. Das ist Corporate Identity, aber meiner Meinung nach keine gute Taktik.

3. Die SP.

Das Parteiprogramm vom letzten Herbst – das ich generell für gelungen halte – zielt auf prononciert linke Wählende ab. Mittlerweile hört man die SP vermehrt vom Atomausstieg und den Problemen des Mittelstands reden – meiner Meinung nach eine geschickte taktische Neuorientierung, mit der man (evtl. erst in Zukunft) Neuwählende ansprechen kann.

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Es gibt dabei aber zwei weitere Faktoren zu bedenken:

  1. Man kann nicht nur von anderen Parteien WählerInnen übernehmen, sondern man kann Personen, die nicht wählen, zum Wählen animieren. Die Frage, welche Partei wie stark mobilisieren kann, können statistisch bewanderte PolitologInnen sicherlich besser beantworten.
  2. Jährlich werden junge Menschen volljährig, die eine Position finden müssen. Ein klares Profil kann helfen, solche Wählende für sich zu gewinnen.

Warum wir nicht an wissenschaftliche Fakten glauben.

Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Chris Mooney hat einen sensationellen Artikel für MotherJones verfasst: The Science of Why We Don’t Believe in Science. (Chris Mooney bloggt übrigens auf The Intersection.) Er beantwortet darin die Frage, warum sich Menschen nicht auf wissenschaftliche erhärtete Erkenntnisse einlassen und lieber weiter an etwas glauben, was sich wissenschaftlich nicht nachweisen lässt.

Als Amerikaner bezieht sich Mooney auf die klassischen Beispiele, mit welchen sich die amerikanische Politik beschäftigt:

  • Klimaerwärmung
  • Irakkrieg im Zusammenhang mit der Frage
    a) ob Hussein Massenvernichtungswaffen besessen habe
    b) ob Hussein mit den 9/11-Anschlägen etwas zu tun gehabt habe
  • Evolution vs. Kreationismus
  • Geburtsort und Glaube von Obama
  • Wirksamkeit der Todesstrafe
  • Anti-Impf-Bewegung

Es ist Mooney zugute zu halten, dass er nicht nur Beispiele anschaut, bei welchen die traditionell gläubigen Republikaner unwissenschaftlich argumentieren, sondern (z.B. bei der Impffrage) auch den irrationalen Skeptizismus der Linken unter die Lupe nimmt. Die wesentlichen Erkenntnisse von Mooney sind nun:

1. Wie Überzeugungen wirken.

Wenn wir von etwas überzeugt sind, so werden wir Fakten, die unseren Überzeugungen widersprechen, entweder ignorieren oder die Quellen dieser Fakten für unglaubwürdig halten oder die Fakten direkt bezweifeln. Wir verhalten uns in Bezug auf Überzeugungen wie Sekten, die an den Weltuntergang an einem bestimmten Datum glauben: Selbst wenn dieser Weltuntergang nicht eintritt, führt das nicht dazu, dass sie ihren Glauben abschütteln.

Konkret heißt das: Experten, die eine andere Haltung vertreten als unsere, schätzen wir als unglaubwürdiger ein als solche, welche unsere Haltung stärken. Wir bezweifeln Statistiken, welche unsere Überzeugungen untergraben – und glauben auch unseriösen Studien, welche unsere Überzeugungen stützen.

2. Psychologie der Überzeugungen.

Es gibt grundsätzlich drei Gründe, die dazu führen, dass wir uns so verhalten:

Erstens tendieren wir aufgrund von unbewussten Faktoren wie Emotionen dazu, Sachverhalte einzuschätzen, bevor wir vernünftig über sie nachdenken. Dieses Nachdenken ist dann eher ein Prozess, der dazu führt, unsere subjekten Einschätzungen zu stützen. In anderen Worten: Wir denken eigentlich nie unvoreingenommen nach, sondern wissen unbewusst immer schon, was wir herausfinden möchten. Mooney verwendet Beispiele aus dem Beziehungsbereich: Eltern glauben aus Liebe zu ihren Kindern nie daran, dass diese andere Kinder mobben – auch wenn alle Fakten bzw. Fremdurteile dafür sprechen.

Zweitens haben wir unsere Haltungen langfristig aufgebaut. Diese Investition von Ressourcen muss sich lohnen. Würden wir alles, was wir glauben, ständig hinterfragen, wenn sich eine Möglichkeit bietet, wären wir fast ausschließlich mit dem Hinterfragen beschäftigt – und entsprechend verunsichert und orientierungslos.

Drittens definieren uns unsere Haltungen. Es mag irrational erscheinen, wenn Sektenmitglieder an den Weltuntergang auch dann glauben, wenn er nicht eingetreten ist. Aber dadurch definieren sie sich als Sektenmitglieder – sie gehören gerade deshalb zur Sekte. Wenn nun ein Homöopath an der Wirksamkeit der Homöopathie zu zweifeln glaubt, führt das nicht nur zu einer Kritik an seinem früheren Verhalten (auch von außen), sondern auch zu einer Erschütterung vieler Beziehungen, letztlich zu einer starken sozialen Belastung – es mag also durchaus rational für ihn sein, weiterhin an etwas zu glauben, woran er – nach wissenschaftlichem Maßstab – nicht glauben sollte.

3. Die Konsequenzen.

Mooney gibt auch eine Empfehlung ab, wie mit diesem Problem (z.B. in den Medien) umgegangen werden könnte. Die wichtigste Idee ist, dass die Fakten alleine wenig wirksam sind. Um Leute zu überzeugen, muss man mit Haltungen und oder Werten argumentieren, welchen mit ihren eigenen Haltungen und Werten zumindest teilweise übereinstimmen. Man müsste also beispielsweise Leuten, welche an den Zusammenhang zwischen harten Strafen und Sicherheit glauben, ein Narrativ anbieten, das beim Wert der Sicherheit ansetzt und zeigt, dass eine Alternative eine bessere Umsetzung dieser Werthaltung ermöglicht – oder aber Autoritätspersonen beziehen, welche für Haltungen und Werte stehen und für vernünftige Argumente zugänglich sind. Diese Aufgabe betrifft insbesondere Medien. (Mooney verweist auf diese Studie.)

4. Der politische Aspekt.

Wie einleitend schon erwähnt, untersucht Mooney konservative (rechte) und progressive (linke) politische Bewegungen in Bezug auf Überzeugungen. Dazu macht er drei spannende Aussagen (die ich hier vereinfacht wiedergebe):

  • Rechte und linke Überzeugungen unterliegen den oben beschriebenen Effekten – sie entsprechen de facto Glaubenssystemen.
  • Rechte Überzeugungen werden in der Konfrontation mit gegenteiligen Fakten nicht schwächer – sondern gar stärker. Diese Verstärkung lässt sich bei linken Überzeugungen nicht nachweisen (»backfire effect«).
  • Dem wissenschaftlichen Mainstream widersprechende Haltungen findet man nur bei rechten BerufspolitikerInnen, nicht aber bei Linken (z.B. gibt es in den USA keine DemokratInnen, welche an unwissenschaftliche Zusammenhänge zwischen Impfungen und Krankheiten glauben, aber viele RepublikanerInnen, welche wissenschaftlich erhärtete Fakten zur Klimaerwärmung bestreiten).